Monday, December 08, 2008

Paula und Frieder

1

frieder klingelt bei paula. sie wohnt, wie man wohnen möchte, altbau an der außenalster. paula öffnet die türe. sie trägt ihre weiße schürze, weil sie gerade griesbrei kocht. paula sieht frieder und schüttelt den kopf: "hau ab!"

frieder schaut zu boden und sagt: "ich komme um die welt zu ändern!" paula lacht, höhnisch. frieder sagt: "ich will noch einmal von vorne anfangen, zurückspulen, erase and rewind, dir beweisen, dass ich ganz anders bin, wirklich." paula: "schleich dich, schleich dich, verschwinde aus meinem leben, ich will nichts mehr von dir wissen, änder die welt, änder dich, nur lass mich in ruhe!"
aus der küche riecht es streng. der griesbrei. angebrannt.
paula rennt zum herd. sie flucht wie ein metzger. worte, die frieder noch nie aus ihrem kultivierten mund gehört hat, begriffe, die er nicht für möglich hielt in dieser wohnung. frieder tritt ein. während sie im topf kratzt, umfasst er ihre hüften. paula dreht sich um, den kochlöffel in der rechten hand, schwarzer griesbrei tropft auf den boden. "wage es nicht, fass mich nicht an, sonst ziehe ich dir eine über!"

frieder geht zum kühlschrank. zieht den korken aus einem fritz haag riesling. aus den lautsprechern bellt iggy pop. er kann sich nicht an ein einziges mal in den gemeinsamen acht jahren erinnern, an dem sie rockmusik hörte. zwei gläser, halbvoll. "bitte." "ich will nicht." "lass uns reden." "ich will nicht." "ich brauche diese chance paula, ich brauche dich."

paula läuft eine träne die wange hinunter, dann werden es mehrere, viele, schnell und kalt, wie ein sturzbach im gebirge. ihre mundwinkel zucken, sie weint, weint, weint, bis zum krampf, kann nicht mehr aufhören.
frieder steht und schaut. er möchte sie umarmen, ihren kopf an seine brust drücken, ihre haarspange aufmachen, durch die schwarzen haare streichen, die tränen von ihrer wange küssen, ihr ein taschentuch anbieten. aber er macht nichts.

paula beruhigt sich. die flut aus ihren augen versiegt, plötzlich. sie schaut frieder direkt in seine braunen augen. er blickt wieder zu boden. er weiß, dass er die letzte chance vergeben hat.

paula fängt an zu lachen. frieder atmet auf. dann wird das lachen lauter und schriller und bald hysterisch. ihr lachen ist die hölle, schlimmer als das weinen, es hört nicht mehr auf. paula trinkt ihr glas aus und schmeißt es auf den boden, vor frieder's füße. eine scherbe springt vom boden an seinen knöchel. ein schnitt, blut.

paula geht langsam aus der küche, nimmt die schürze ab, zieht ihre jeans, ihr top und ihren slip aus und legt sich auf die couch. schildkröte manni hat den kopf eingezogen, der panzer sieht aus wie eine ananas.

frieder und paula schlafen auf der couch miteinander.

2

"du."
"ja."
"schläfst du?"
"nein, kann die gedanken nicht ausschalten."
"wollen wir uns noch einmal lieben?"

"frieder."
"ja."
"wenn du mich lieben willst, dann tu es einfach, aber frag' nicht. das macht alles kaputt."
"ok, entschuldigung."
"entschuldigung? warum entschuldigst du dich? warum willst du es immer allen recht machen? du bist halt der typ, der fragt, bevor er vögelt, na und? gibt sicher frauen, die so etwas mögen..."
"wie meinst du das? warum sagst du so was und erst jetzt, nach acht jahren, auf dem müllberg unserer beziehung?"
"weil ich mich vorher nie getraut habe frieder, ich habe mich vieles nicht getraut..."

"paula."
"ja."
"wo haben wir uns verloren?"
"lass mich schlafen, ich muss morgen früh in die agentur."
"gibst du mir wieder einen schlüssel? vielleicht können wir morgen abend eine flasche wein trinken und über alles noch einmal in ruhe reden."
"frieder, morgen abend gehe ich mit sophie ins schauspielhaus und wenn ich nach hause komme, dann liegst du nicht in meinem bett."

"frieder."
"ja."
"du weinst doch nicht, oder?"
"..."
"weißt du, wann ich dich am besten fand in all' den jahren?"
"nein."
"wenn wir uns am sonntag nach dem frühstück noch einmal hingelegt haben, ich weggedöst bin, und du mich genommen hast, einfach so, ohne zu fragen. danach hast du dir im bett eine angezündet und den sportteil gelesen, obwohl ich beides gehasst habe. aber das warst du, frieder, das war der echte frieder."

3

in den ersten sekunden nach dem aufwachen, in denen er orientierungslos das ende der nacht feststellen muss, da langt frieder häufig auf das kissen neben ihm, in der hoffnung er könne paulas haare fühlen, sie sanft auf seine brust schieben, sie riechen. paula riecht nach der nacht immer besser als davor, völlig frei von störenden einflüssen wie parfüms oder cremes.

in den letzten monaten hielt frieder nach den orientierungslosen aufwachsekunden meist die reste einer thunfisch-pizza, eine flasche budweiser oder die schachtel gauloises in der hand, die mit ihm die nacht verbracht hatte. manchmal schliefen auch die pizza, das bier und die zigaretten mit frieder, gleichzeitig, gangbang mit den kronzeugen des abstiegs sozusagen, mit den begleitern des liebeskummers, der kein ende zu nehmen schien. "romantisiertes männergeheule", schimpfte frieder sein unrasiertes abbild im spiegel, bevor er wieder zum kühlschrank ging um zu tanken, aus angst vor einer weiteren nacht, die ohne seine neuen freunde einsam und unerträglich sein würde.

umso erstaunter ist frieder heute, dass seine rechte hand etwas weiches fühlt, haare, atem, leise und dezent. marie! die empfangsdame aus der kanzlei! scheiße! frieder reißt die weiße leinendecke von sich, rennt ins bad. unter der kalten dusche sucht er nach erinnerungssplittern der letzten nacht, findet aber keine. marie kommt ins bad und setzt sich aufs klo, als wäre sie allein. "marie, ähm, wir, du, ich, ich meine, letzte nacht, wir haben doch nicht?" marie spült. als frieder nach seiner dusche ins schlafzimmer kommt, ist sie verschwunden.

paula ist jetzt mit gustav zusammen. sie verstehe, wenn er, frieder, sich erstmal zurückziehe, abstand und keinen kontakt mehr wolle, sagte sie, als sie ihm am telefon die neuigkeit eröffnete. frieder erwiderte, dass er damit schon klarkäme, sie seien ja keine kleinen kinder mehr, er spüre, dass es auch bei ihm bald wieder soweit sei, mit einer neuen liebe. nein, er wolle den kontakt halten, wolle paula nicht ganz aus seinem leben verlieren. "gut", sagte paula, "aber mach' mir kein theater."

das war vor etwas mehr als einem jahr. von einer neuen liebe ist frieder so weit entfernt wie nie zuvor. wo soll die auch hin, wenn sein herz, sein kopf, seine seele und alles was er sonst noch sein eigen nennt, von paula besetzt ist? paula gibt sich verschlossen und kalt, deswegen trifft sich frieder häufig mit gustav, um so etwas über sie herauszufinden.

gustav ist nicht zu übersehen, sein st.barth teint überstrahlt noch den düstersten hamburger herbsttag. er kommt zu spät, wie immer, entschuldigt sich mit seiner standard-ausrede: er habe für seinen saab keinen parkplatz gefunden. frieder nickt und sagt: "mensch gustav, ich freue mich, dich zu sehen."

als paula ihm gustav das erste mal im gleichen lokal als ihren neuen freund vorstellte, da hatte frieder noch an einen scherz geglaubt, weil gustav alles ist, was paula immer verachtete: laut, snobistisch, egozentrisch. nach der vorspeise war frieder sogar überzeugt, dass ihm gustav von nutzen sein würde, weil paula nach ein paar wochen mit ihm sicher wieder lust auf ihn, frieder, haben würde.

aber paula blieb bei gustav. sie nahm zwölf kilo ab, reiste mit ihm in sein haus auf st. barth und gab nach sechs monaten ihre altbauwohnung auf, um in seine vorortvilla zu ziehen. frieder nahm auch zwölf kilo ab, trank sieben tage die woche und wünschte sich den tod. in der kanzlei machten sie sich schon sorgen und rieten ihm, den kontakt mit paula abzubrechen, aber frieder schaffte das nicht. er ließ sich lieber demütigen, als paula aus seinem leben zu streichen.

seine erste therapeutin mahnte ihn zur geduld, woraufhin er zur zweiten ging, die ihm eine reise nach indien empfiel, was er für äußerst einfallslos hielt, und mit der dritten schlief er, nachdem sie ihm gesagt hatte, dass begierde überschätzt sei, es auf die innere erfüllung ankomme, die er auch ohne paula erreichen könne.

"ich habe eine fantastische neuigkeit für dich", sagt gustav und legt seine gabel in die grünen tagliatelle, die in der weißen sauce mit den flußkrebsen schwimmen.
"ja, was denn?"
"schau mal."
gustav zieht einen umschlag aus der tasche und reicht ihn frieder. in dem umschlag ist ein foto, das wie ein röntgenbild aussieht.
"was soll das denn sein, ich erkenne nichts", fragt frieder.
"na klar erkennst du noch nichts", antwortet gustav und strahlt, "der kleine gustav ist ja erst drei monate alt. paula ist schwanger, mann!"

4

als frieder paula kurz nach der wende kennenlernte, sie war die einzige frau im karatekurs in winterhude, da haute sie ihn einfach um. ein fußtritt an sein kinn schickte ihn auf die matte, paula entschuldigte sich später mit einem fencheltee, der anfang von seinem ende, so muss man das heute sehen.

nach theater und samstäglichen spaziergängen über den goldbekmarkt fand frieder, dass er paula mehr bieten müsse, als hamburg, und lud sie zu einem wochenende ins grand hotel nach heiligendamm. "das ist ja wie ein schloss, wie im märchen", jauchzte paula, als sie die auffahrt zu dem weißen prachtbau hochfuhren. nach zwei flaschen riesling, sechs gängen und drei orgasmen erklärte sie frieder zu ihrem prinzen, an dessen seite sie je nach bedarf die magd oder prinzessin sein würde, bis in alle ewigkeit. dann machte sie das fenster auf, von der ostsee blies kalter wind in die suite und paula legte sich nackt zu frieder unter die decke.

in zwei wochen heiraten paula und gustav in der kleinen kirche in blankenese. zu paulas junggesellinnenabschied hat gustav ihr und ihren drei besten freundinnen eva, carla und kim ein wochenende in heiligendamm spendiert. in der platin-suite, mit sterneküche und chauffeur, der die damen auf wunsch zu ausflügen fährt. paula hatte gustav erzählt, wie sehr sie das hotel an der ostsee liebe. frieder und die gemeinsamen nächte hatte sie verschwiegen.

für frieder ist die welt nur noch ein schwarzes loch, ein schwarzes loch mit einer grimasse, die ihn tag und nacht verleiten möchte hineinzuspringen, in das loch, in den brunnen ohne wasser. nachdem sebastian gustav auf die welt gekommen war, problemfrei durch paula hindurch als wäre sie eine wasserrutsche, spätestens als er die karte in der hand hielt, mit dem ehepaar to be und dem kleinen, spätestens da wurde frieder klar, dass er paula verloren hatte. sie hatte durch das kind einen bund mit gustav geschlossen, der unüberbrückbar war, egal was noch kommen sollte.

seine gefühle wandeln im negativen, mal bemitleidet er sich, dann ist er wütend auf sich, mal datet er wahllos frauen, in der hoffnung ein juwel aus der quantität sieben zu können, mal sitzt er ein ganzes wochenende in seinem sessel vor dem fernseher, zu müde und zu deprimiert um aufzustehen, wenn er mal muss, pinkelt er vom balkon auf die straße seiner stadt seiner welt, die er verlassen hat. frieder ist nur noch eine hülle aus zellen, eine ausgehauchte obsession, ein schauspieler in der kanzlei, ein schauspieler vor seinen eltern, ein schauspieler vor sich. wenn er nachts wachliegt und die fratze des schwarzen lochs mit der zunge schnalzt, dann ist es nur der hässlichkeit dieses anblicks zu verdanken, dass frieder nicht springt.

gustav lädt zum junggesellenabschied in seine villa. im garten spielen brasilianische sambagirls musik, auf dem screen im wohnzimmer läuft ein film aus hefners playboy mansion und adrette brünette fliegen mit bier, buletten und burgunder heran. schlimmer geht es nicht, schlimmer geht es einfach nicht, denkt frieder, in der rechten hand ein glas wasser, in das er auf der toilette seinen wodka geschüttet hatte. in der homogenen menge des maskulinen klischeeschwachsinns ragt eine person heraus.

dieter ist zwei meter groß, stellt sich als unternehmensberater vor, auch dieter hält ein glas wasser in der hand.
"sie scheinen der einzig normale hier zu sein", sagt er zu frieder.
"frieder, ich heiße frieder, kein sie bitte."
"fein, ich heiße dieter und freue mich, dass sie der bierseligkeit entsagen."
"über bier bin ich schon lange hinweg."
"verstehe. sagen sie, kann ich ihnen irgendwie helfen?"
"nein, sehe ich so aus, als ob ich hilfe bräuchte?"
"um ehrlich zu sein, ich habe noch nie einen menschen getroffen, der so viel hoffnungslosigkeit, so viel verzweiflung ausgestrahlt hat wie sie."

die stripperinnen sind gekommen, gustavs freunde spielen right said fred und gustav sitzt jetzt auf einem stuhl mitten im wohnzimmer, die augen verbunden, auf dem rechten oberschenkel conny, auf dem linken monique. gustav brüllt, seine jungs brüllen auch.

frieder fragt dieter, ob es ihm etwas ausmachen würde, wenn er ihn mit nach hause nähme. dieter und frieder fahren nach hamburg, im trockendock von blohm und voss wird die queen mary 2 mit farbe besprüht und über dem hafen liegt herbstnebel. frieder ist stocknüchtern, obwohl auf seiner leber promille tanzen. "kommst du noch auf einen schluck zu mir", fragt dieter. frieder nickt.


5

aus der küche der geruch von brühkaffee, dazu das radio: "walk like an egyptian...yeah yeah...i walk like an egyptian.." dieter im bademantel am herd, ein ei, platsch, brutzel, noch ein ei, frieder würgt. die wohnung geleckt sauber, das kopfkissen zu hart, den boden des balkons zieren ausgetretene kippen wie windpocken das kranke kind.

dieter kommt mit der pfanne in der hand und wünscht guten morgen. die letzte nacht scheint ihm einiges gegeben zu haben, er strahlt. was sie frieder gegeben hat, weiß dieser nicht mehr so genau, nur dass dieter nicht schwul ist, das hat er behalten. weil das war ja irgendwie auch die bedingung dieters einladung auf dem sofa in den schlaf zu surfen anzunehmen.

"morgen dieter. na, schon lange wach?"
"seit einer stunde. mache frühstück, magst du eier?"

frieder schmeckt verkrustete rotweinlippen und verneint.
"kaffee ist fein, danke."
"sicher?"
"ja."
"ok. war wohl ein bisschen viel montepulciano gestern."
"war lecker, wirklich, danke."
"schon recht, wir gustav-geschädigten müssen schließlich zusammenhalten."
"mhh."
"schon ein richtiger aufschneider, mein bruderherz!"
"bruderherz?"
"ja, habe ich dir doch gestern nacht erzählt. gustav ist mein jüngerer bruder."
"ach ja, stimmt."

frieder log, nichts wusste er. nur, dass er nicht länger bei gustavs oder irgendeinem anderen bruder in speedos auf der couch liegen wollte.

"rufst du mir ein taxi?"
"schon? willst du dich nicht duschen? ich leihe dir auch frische sachen."
"lass gut sein dieter, muss mal wieder nach hause, nach dem hund schauen."

nächste lüge. eine halbe stunde später fährt frieder im taxi zu elena, seiner physiotherapeutin. elena sagt nichts, als er in ihre praxis schlurft und packt frieder in eine fangopackung. frieder spürt die warme braune masse auf seinem brustkorb, schläft ein und wacht nur wieder auf, weil sein handy klingelt. elena nimmt ab, hält es an sein ohr.

"hallo?"
"frieder?"
"paula?"
paula weint.
"ja."
paula schluchzt.
"paula, was ist denn los? wie war dein wochenende in heiligendamm?"
"frieder, gustav..."
paula schluckt.

frieder spürt ein neues leben. gustav hat mist gebaut, paula sieht endlich ein, wer der richtige vor dem traualtar ist, und deswegen wendet sie sich jetzt an ihn. glorreich! eigentlich hatte er sich für diesen moment vorgenommen, ihr nicht die schulter anzubieten, sondern die kalte zu zeigen, aber was vorsätze wert sind, weiß ja jeder, der schon mal silvester gefeiert hat.

"was ist denn passiert paula?"
"frieder, gustav liegt im krankenhaus, hat ein auge verloren."
"ein auge verloren?"
"ja, er erzählte mir, dass er nach seinem junggesellenabschied unbedingt noch an der elbe joggen wollte. dabei ist ihm ein rabe ins auge geflogen, mit dem schnabel voraus!"
"ein rabe? beim joggen?"
"schrecklich, nicht wahr? du kannst dir nicht vorstellen wie er leiden muss, mein gustav. ich bin hier bei ihm im krankenhaus, kannst du nicht vorbeikommen, das wäre mir so wichtig!"

frieder friert unter fango. er glaubt kein wort von gustavs geschichte, wahrscheinlich ist eine der stripperinnen mit ihren manikürten extralong-bitchnägeln beim liebesspiel ausgerutscht. aber ein rabe, beim joggen? bullshit! nur: wie paula das beibringen?

"paula, ich bin gleich bei dir. wo liegt er denn?"
"kreiskrankenhaus, dritter stock."
"halt durch paula, ich bin auf dem weg."

frieder sagt elena, dass sie das telefon von seinem ohr nehmen kann. er duscht, zieht seine verstunkenen kleider an, die ihn schon seit mehr als 24 stunden begleiten, und verlässt elenas praxis so wie er kam, grußlos und innerlich aufgewühlt. dem taxifahrer sagt er, er solle ihn zu einer tankstelle fahren, irgendeiner, völlig wurst. frieder braucht rat, den kein mensch ihm geben kann, er muss seine freunde jack d. und johnny w. treffen.

6

johnny w. sagte, dass sich politisch korrektes verhalten positiv auf das eigene gewissen auswirken würde, dass frieder im krankenhaus diplomatisch sein müsse, auch aus egoistischen gründen. die belohnung sei: ruhig schlafen können, mit sich im reinen sein, innere harmonie.
jack d. sagte: fuck political correctness!

intensivstation, dritter stock. paula trägt sebastian auf dem arm. der kleine schläft. sein vater, der hinter einer scheibe aus plexiglas vermummt in weißen tüchern liegt, schläft auch. paulas augen sind gerötet. als sie frieder sieht, lächelt sie kurz.
"danke, dass du gekommen bist, danke."

gustav werde auf dem rechten auge nie wieder sehen können, erzählt paula, die ärzte hätten ihm ein plastikauge eingesetzt. nachdem der rabe in gustvas auge geflogen sei, sei gustav nach kurzer zeit ohnmächtig geworden, seine schmerzen seien zu groß gewesen. dann hätten ihn die ärzte hier im krankenhaus nach der operation in ein künstliches koma gesteckt, da könne der körper besser regenerieren.

zwei krankenschwestern schieben einen narkotisierten grauhaarigen vorbei. oder ist es ein toter grauhaariger? schwer zu sagen, frieder hört noch, wie die eine schwester der anderen zuruft, dass es in der kantine heute maiskolben gäbe, mexikanisch zubereitet.

frieder wollte passioniert sein, mit zuneigung helfen und unterstützen, ohne sabbernd paula um aufnahme in ihr herz zu bitten, aber er fühlt, dass wieder einer der momente ungenützt an ihm vorbeigleitet, in dem er paula zeigen könnte, was sie ihm bedeutet.

wie sie da so verzweifelt vor der scheibe steht, die schwarzen haare hochgesteckt, ungeschminkt, in der jeans, die sie eigentlich nur zuhause trägt, unter dem rosa cashmere-pulli ihr gelbes schlaf-t-shirt, auf dem zwei fischer lachen, was nur frieder weiß, weil sie es zusammen in cinque terre gekauft haben, da möchte frieder sie am liebsten in den arm nehmen und nicht mehr loslassen.
es sind die momente spontaner trauer und spontaner freude, die sich am authentischsten anfühlen, die momente, die einem keine zeit zum nachdenken lassen, keine zeit sich zu verstellen, weil sie zu überwältigend sind. wenn es in diesen momenten gelingt, eine verbindung herzustellen, wenn man sie zusammen erlebt, dann verbindet das für immer.

aber frieder schafft es nicht, eine emotionale brücke zu paula zu bauen, er steht mal wieder nur da und schaut. steht da und schaut auf gustav, der nach seinem erwachen eine etwas eindimensionalere perspektive auf die welt haben wird. paula schluchzt leise vor sich hin, die minuten vergehen, nichts bewegt sich, außer den digitalanzeigen der messgeräte über gustavs krankenbett. und dann, völlig unerwartet, gewinnt jack d.

"weißt du was ich glaube, paula? ich glaube die geschichte mit dem raben ist erstunken und erlogen, ich glaube dein einäugiger pirat hier ist ein ganz primitiver idiot."

wow, so hatte sich frieder noch nie reden hören. er gefiel sich irgendwie, sebastian wachte nicht auf und paula schwieg, was er als zeichen der zustimmung wertete.

"der hatte brasilianische sambamäuse auf seinem junggesellenabschied, wusstest du das? der hat sich von zwei stripperinnen die popos ins gesicht strecken lassen und dazu jubelten seine feinen freunde und eure beschissene blankeneser existenz erwies sich als prekariat, weißt du? eine bombe hätte man auf den ganzen haufen testosteronhirsche schmeißen sollen, der welt wäre nichts verloren gegangen."

paula rührt sich nicht, blickt starr auf mumie gustav.

"und joggen! dass ich nicht lache! wie hätte denn dein gustav noch joggen sollen, so breit wie der war? der war so breit, aus dem hättest du eine achtspurige autobahn machen können, so breit war der, da hätte sich der tiefensee mal richtig gefreut. und du? was machst du? du glaubst ihm den scheiß und stehst hier wie eine vietnamwitwe, deren mann sich für sein land auf 20 vietcong gestürzt hat. wenn es nicht so zynisch wäre, dann würde ich sagen: mach' endlich deine augen auf paula, wach' auf! verdammte scheiße!"

sebastian, dessen kopf bis jetzt regungslos auf paulas schulter gelegen hatte, wacht auf. seine hände patschen auf paulas wangen. paula blickt frieder an.

"ich geh' dann mal paula, bin raus hier!"

frieder geht nicht aus dem krankenhaus, er rennt. seit monaten hat er sich nicht mehr so gut gefühlt, vor der tür schmeißt er die kleinen whiskeyfläschchen in den müll, die gauloises hinterher. es regnet, aber frieder will kein taxi, er rennt nach hause, sind es vier kilometer oder vierzehn, er weiß es nicht, auch wie lange er rennt, weiß er nicht, er rennt über rote ampeln und durch unterführungen, wenn tykwer ihn so gesehen hätte, dann hätte er ihn besetzen müssen, statt lola wäre er der lolo gewesen, hahaha, denkt er und lacht, ohne auch nur ein bisschen langsamer zu rennen. the smiling sprinter frieder, geil, wenn seine partner aus der kanzlei das wüssten, hell yeah.

zuhause schmeißt er den alkohol durch das fenster auf die straße, auch seine versifften klamotten, die doors-platten und all seine begleiter der letzten zeit, die ihm den kummer erträglicher gemacht haben. das schmutzige geschirr packt er in die spülmaschine, das ankleidezimmer wird gelüftet, frieder spürt eine energie, die er so noch gar nicht kannte. er zieht sich nackt aus, schiebt eine flamenco-cd in den spieler, tanzt durch die wohnung und lässt ein bad ein, salbeiduft vertreibt den kalten qualm. anschließend rasiert er seinen bart, erst das grobe elektrisch, dann den rest nass, und jodelt fast, als der alkohol des aftershaves in sein gesicht beißt.

er erinnert sich an susi, die neu eingezogen ist im haus, und dass sie ihn mal mit ins fitnessstudio nehmen wollte und gerade, als er überlegt, ob er noch heute bei ihr klingeln soll, um auf ihr angebot einzugehen, da vibriert sein handy, eine nachricht.

von paula.

7

als frieder bei susi klingeln will, hört er laute, erregte stimmen aus ihrer wohnung.
"ja, beiß mich du sau, beiß mich endlich." susi.
darauf ein gegrunztes "ok", männlich.
dann hört frieder einen schrei, schrill, susi.
"bist du okay baby?" männlich.
"blute ich?"
"nein."
"dann beiß mich endlich du weichei, beiß mich bis ich blute, hier in den hals, in die schulter, nun mach' schon!"
"susi, das ist mir echt ein bisschen zu abgefahren, wirklich, ich weiß nicht..."
"beiß mich jetzt sofort oder ich klingel unten bei dem neuen, der sieht so notgeil aus, der macht das bestimmt."
und der unbekannte beißt. und susi schreit. und das gestöhne beginnt. frieder geht wieder nach unten und beschließt, paulas sms doch zu lesen.

paula schreibt sms in großbuchstaben, aus welchem grund auch immer. als sie noch ein paar waren, da hat sich frieder darüber fürchterlich aufgeregt, weil er es hasst, wenn dinge unbegründet passieren. irgendwann war die beziehung keine mehr und paula schrieb nur noch selten, und für frieder hätte sie dann auch in chinesischen schriftzeichen schreiben können, so sehr freute er sich über jede nachricht, jedes lebenszeichen, in das er natürlich gleich hinein interpretierte, dass paula zu ihm zurückwolle. und heute? am tag der großen flurbereinigung, den er eigentlich mit einem schäferstündchen bei susi ausklingeln lassen wollte, wie wichtig ist frieder jetzt, wie paula schreibt? und was?

FRIEDER. DEIN AUFTRITT EBEN HAT MICH NACHDENKLICH UND TRAURIG GEMACHT. WOLLEN WIR NOCH EINMAL IN RUHE DARÜBER REDEN? ICH MÖCHTE NICHT, DASS BÖSES BLUT ZWISCHEN UNS IST, WENN GUSTAV AUS DEM KRANKENHAUS KOMMT. MORGEN MITTAG UM 12 BEI CENTARO? GRUSS, PAULA

frieder kann es nicht fassen. paula möchte nicht, dass böses blut zwischen ihnen ist, wenn ihr kerl wieder aus dem krankenhaus kommt? es geht wieder nur um sie und um ihren gustav, um diese beziehung, die frieder alles kaputt gemacht hat, und er soll jetzt dafür sorgen, dass harmonie herrscht? frieders finger zucken, er hat große lust, eine antwort zu schreiben, an die paula sich erinnern wird wie kalifornien ans feuer, in großbuchstaben, capital letters, damit sie seinen hass unmissverständlich und klar lesen kann. aber einer der wenigen vorteile des älterwerdens ist, dass frieder schon so oft vorschnell entscheidungen getroffen hat, die er später bereut hat, deshab beherrscht er sich diesmal und legt das handy neben das bett. frieder will tanzen gehen und sich dabei überlegen, ob und was er antwortet.

gleich hinter dem hauptbahnhof steht ein schuppen namens ricco. hier ist 24 stunden offen, hier begegnen sich die krawatten und die, die platte machen, hier trinkt die dame vor der abfahrt einen milchkaffee und die jugend fährt hier solange ab, bis in der mopo wieder über wolfi steht, dass er der einzige wirt hamburgs sei, der auch noch einen säugling besoffen machen würde, so lange der genügend trinkgeld gäbe.

der ärger über paulas sms ist verflogen, es fühlt sich gut an, der zu sein, von dem die antwort erwartet wird, und nicht der, der auf die antwort wartet. frieder trinkt aus freude, und wenn er aus freude trinkt, ist er schneller besoffen, als die lautsprecher vom hauptbahnhof nebenan die verspätungen der züge bekannt geben können.

pils und pils und pils und einen aufs haus und pils und pils und einen aufs haus und so weiter. wolfi der wirt ist geldgierig ohne ende, seine preise steigen mit der stunde, soll heißen, wer um sieben ein pils für einen euro bekommt, zahlt dafür nach mitternacht schon vier. "verbesserte lebensqualität kostet", erklärte er frieder einmal. aber wolfi bietet auch was für sein geld, die gäste kommen gern, weil sich auf der bühne im ricco jeden abend ein anderer act präsentieren darf und dabei ist nur wichtig, dass die im rampenlicht musik machen. welche, wie laut und wie lange ist wolfi egal.

frieder hat glück. heute spielen the göteborg girls, zwei blonde schwedinnen, die kleider tragen, die aussehen als hätte man dirndl mit einem hippieumhang aus goa gekreuzt. sie spielen schwedische polka, tanzen barfuß, schwitzen und animieren die gäste mit englischen anheizsprüchen. frieder tanzt vor der bühne, als einziger, aber das kommt ihm nicht so vor. sein bauch ist warm, vom bier und vom schnaps, und weil frieder sich so gut fühlt, knöpft er sich das hemd auf und schmeißt es auf die bühne.

in einer pause steckt er alva einen fünfziger in den ausschnitt, ihrer schwester reta einen hunderter, damit zwischen den beiden keine zweifel aufkommen, wer frieders präferenz hat. frieder tanzt, die mädchen spielen und singen, und wolfi stellt ein gedeck nach dem anderen auf den tresen, er freut sich, dass die drei heute abend richtig stimmung machen. wer hätte gedacht, dass bei schwedischem polka so viel begeisterung herrschen würde?

8

nachdem frieder aus dem krankenhaus gerannt war, stand paula wie erstarrt vor der scheibe, hinter der ihr zukünftiger lag, einäugig, ausgeknockt. auf dem arm hielt sie seinen sohn, der sich seltsam fremd anfühlte. ihr kopf signalisierte ihr, dass das gerade ein unglaublich egoistischer auftritt von frieder, ein geschmackloser akt der selbstdarstellung war, in einem moment, in dem sie seine unterstützung gebraucht hätte. nicht wut, nein, verachtung hatte frieder dafür verdient, eine ausladung von der hochzeit, eine lebenslängliche kontaktsperre, aber paula nahm die signale aus ihrem kopf nicht wahr, sie fühlte sich zu frieder hingezogen, sie fühlte, dass er recht hatte, sie blickte auf gustav und spürte nichts mehr. die krankenschwester stand auf einmal neben ihr, paula hatte sie gar nicht kommen gehört, sie solle jetzt nach hause gehen und sich ein wenig ausruhen, sagte sie.

paula verlässt das krankenhaus, fährt nach blankenese, wo die putzfrau noch die reste des junggesellenabschieds bereinigt, und bringt sebastian ins bett. der kleine schläft sofort ein. paula kann nicht aufhören an frieder zu denken, sie muss ihn sehen, schickt ihm eine sms, die sich streng anhört, aber nicht so gemeint ist, sie will ihre fassade bewahren, bis sie ihn sieht. frieder antwortet nicht. paula ruft die babysitterin an, die wenig später mit ihrem freund in der tür steht, so kurzfristig habe sie ihr date nicht mehr absagen können, paula verstehe das sicherlich. paula nickt, duscht sich, cremt sich mit der creme ein, die frieder ihr zu ihrem ersten date geschenkt hatte, zieht eine jeans an, braune lederstiefel, eine blaue bluse und einen beigen trenchcoat. alles geschieht wie automatisch, ohne zögern und zweifeln, als wäre paula eine marionette, als wäre frieder ein magnet, der sie anzieht, ohne dass sie sich dagegen wehren kann, als wäre frieder das plus und sie das minus, die beide nicht ohne einander können. miteinander aber auch nicht.

paula klingelt und wartet, nach dem fünften mal gibt sie auf. frieder ist nicht zuhause, wo kann er sein? hat er eine neue, die er ihr verschwiegen hat? ist er bei klemens und spielt schach? oder ist er im ricco und trinkt einen absacker? paula ruft frieder an, sein handy klingelt, aber niemand antwortet. sie wird ins ricco gehen, auch wenn sie diesen fatalistischen existenzialistenschuppen hasst, weil es dort nach zigaretten stinkt, nach schweiß und bulettenbratfett, weil sie dieser männerromantik nichts abgewinnen kann, diesen hobbysäufern, die sich für hemmingway halten oder für bukowski.

die musik, die bis auf die straße schallt, hat paula noch nie gehört. sie klingt wie eine polka, nur elektronisch, der gesang ist nicht slawisch, seltsam abgehackt, und dann brüllt eine männerstimme ins mikrofon, eine männerstimme, die ihr irgendwie bekannt vorkommt. als sie die türe öffnet, wird sie fast ohnmächtig, so widerlich ist der dampf, der ihr entgegenschlägt. durch den nebel erkennt sie wolfi den wirt, den ihr frieder oft in der mopo gezeigt hat, wenn wolfi mal wieder für schlagzeilen gesorgt hatte. auf der bühne singen zwei dralle blondinen, die nur unterwäsche tragen, und ihre arme um einen halbnackten mann geschlungen haben.


9

die göteborg girls machen eine pause, frieder zieht sich sein verschwitztes hemd wieder an und wolfi spielt seinen lieblingssong, "lattenmessen" von kettcar.

"... wie war nochmal die frage?
spiel, satz und sieg für nichts
und wir haben alles und nichts zu sagen
"hi, ich hab gehört dass..."
"danke, du mich auch mal"
spiel, satz und sieg für nichts
und wir haben alles und nichts zu sagen
wir können das alles diskutieren
aber doch bitte ohne zu reden
ziwschen großem verständnis und von wegen
die welt geteilt in gut und schlecht
und wer bei 10 noch steht hat recht
wer von uns bei 10 noch steht hat recht..."

frieder lehnt am tresen und prostet wolfi zu, der lacht, weil es einer dieser abende ist, die man nicht planen kann, die entstehen wie die lava, von der man auch nie weiß, wann sie sich über den vulkan ergießt. frieder ahnt, dass er diese nacht am nächsten tag bezahlen wird, dass der kater schon vor seinem bett steht und ihn in das loch aus depressionen, selbstmitleid und kopfschmerzen stoßen will. nach dem höchsten hoch kommt immer das tiefste tief, die beiden verlaufen parallel, naturgesetz quasi. aber wer wird schon katzenjammern? "ein gedeck wolfi, komm', schenk' nochmal richtig ein!"

"...bei 4 am boden, tschüss ihr vollidioten
und 8 und 9 hip hip hurra
und 10 ein allerletztes mal vernunft
ein allerletztes mal. ein letzter bester witz
und dann die hände hoch
wenn doch alles verloren ist
wir können doch alles diskutieren...
leise und deutlich raus hier, sagte nur:
leise und deutlich raus hier..."

paula mag frieder nicht, wenn er besoffen ist. welche frau mag das schon? normalerweise wäre sie sofort wieder gegangen, wenn sie ihn so desolat wie auf der bühne gesehen hätte, aber heute abend stehen die zeichen auf veränderung zurück in die vergangenheit. sie nähert sich frieder von der seite, greift seine hand. frieder dreht seinen kopf in ihre richtung, sein lachen wird zur fratze, aus den boxen plärren die toten hosen "all' die ganzen jahre".

"paula! du hier! ist ja abgefahren!"
"ich komme um die welt zu ändern frieder, erinnerst du dich? lass' uns nach hause gehen und nochmal von vorne anfangen."
"paula, ich, ich, weiß nicht was ich sagen soll, paula, das kommt so völlig unerwartet. willst du einen drink? wolfi..."
"nein frieder, hier wurde heute nacht schon genug getrunken. lass' mich mit dir nach hause gehen, lass' mich deine wunden lecken."
"aber paula, ich habe keine wunden, mir ging es nie besser als jetzt, hier, mit wolfi und den girls."
"ich weiß frieder, ich weiß, aber lass' uns gehen, ich will bei dir sein, wenn der abgrund grüßt."
"haben wir überhaupt noch etwas paula, ist da noch was?"
"wir haben noch etwas frieder, außerdem wir können doch an uns arbeiten, wir holen uns das, was verloren gegangen ist, zurück."
"nein paula, ich glaube nicht, dass man an der liebe arbeiten kann. ich glaube, die ist einfach da, oder nicht. für mich war sie nie weg, irgendwie."

aus seiner rechten hosentasche kramt frieder die letzten scheine und legt sie wolfi auf den tisch. er hilft paula in ihren mantel und legt seinen arm um ihre schultern. ihr hals riecht nach narciso rodriguez, das parfüm hat er ihr geschenkt. hamburg erhellt, als die beiden in frieders bett fallen.

1 Comments:

Anonymous Anonymous said...

Exzellent !

12:26 PM  

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